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Welche Verhaltensweisen oder Eigenschaften können als „typisch schwedisch“ definiert werden? Sind tatsächlich alle Schweden zurückhaltend, schüchtern, teamorientiert, ehrlich, anspruchslos, konfliktscheu oder wenig aggressiv?325
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Übertragen auf die Betrachtung und Darstellung schwedischer unternehmenskultureller Besonderheiten stellen sich gleiche Fragen. Können sich bestimmte Eigenschaften grundsätzlich einem Land oder einer Kultur zuschreiben lassen? Kann man insbesondere etwas als „schwedisch“ bezeichnen?
Leicht tendiert man dazu, Stereotype festzumachen: „Wie jeder andere Mythos bewirken Stereotype die Verzerrung der Wirklichkeit, die nach dem Mechanismus der self-fulfilling prophecy das erkennende Subjekt mit Blindheit schlägt. (...) Stereotype, so könnte man sagen, sind standardisierte Urteile eines Kollektivs über sich selbst oder über andere, die, das schwingt immer mit, der Wirklichkeit nicht oder nicht ganz entsprechen.“326 Anders ausgedrückt ist ein Stereotyp „ein zwar nicht völlig falsches, jedoch unzulässig verkürztes, meist nicht auf eigener Erfahrung beruhendes, jedenfalls aber nicht wirklich stichhaltiges Urteil.“327
Beim Versuch der Darstellung nationaler wie etwa schwedischer Eigenheiten mag man dazu tendieren, diese Eigenheiten oberflächlich zu betrachten und detaillierte Unterschiede nicht näher zu berücksichtigen: „Så kan man botanisera i kulturskillnader och fundera mellan skillnader i mentalitet, men det blir lätt att man bara skrapar på ytan och fastnar i stereotypa föreställnigar om nationalkaraktär.“328
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Aus streng wissenschaftlicher Sicht ist es nur mit größter Zurückhaltung gerechtfertigt, die Existenz von exakt beschreibbaren und allgemein gültigen Nationalcharakteren zu unterstellen. Zu jeder Verhaltensweise, die als typisch für eine Nation oder als Norm dargestellt wird, ließen sich gegenteilige Verhaltensweisen aufzeigen. Gleichwohl wird eine Behandlung des Themas der vorliegenden Arbeit nur unter Inkaufnahme von Verallgemeinerungen im wissenschaftlich zulässigen Umfange möglich sein. Wenn die Rede von nationalen Eigenheiten ist, dann ist dies so zu verstehen, dass es sich dabei um kaum zu bestreitende Tendenzen im Verhalten der Mitglieder des jeweiligen Kulturkreises handelt. Man kann nicht leugnen, dass es nicht nur sprachliche, sondern auch das sonstige Verhalten betreffende Phänomene gibt, die im jeweils anderen Kulturkreis auffallen, weil sie von Gegebenheiten des eigenen Kulturkreises abweichen.329
Der schwedische Ethnologe Åke Daun macht nach langjähriger Erforschung der schwedischen Mentalität auf die Problematik der Stereotypie aufmerksam: „Stereotypin är ibland fördomsfullt osann, men den är framför allt osann i sin egenskap av generalisering. Det heter t.ex. att svenskarna är blyga, som om alla svenskar alltid vore blyga, i alla situationer. Det finns en stor spännvidd inom varje befolkning.“330
Nur mit Vorsicht wird von einem schwedischen Nationalcharakter zu sprechen sein, weil das „typisch Schwedische“ fallweise und je nach Gruppe variiert: „Det har skapats många myter om hur svensken är eller har varit och det kommer ständigt att skapas nya. (...) Begrepp som nationalkaraktär eller svensk mentalitet bör man handskas mycket försiktigt med. Det typiskt svenska skiftar från grupp till grupp, från tid till tid.“331
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Bolten vertritt die Ansicht, dass es objektive Kulturdarstellungen nicht geben kann. Sowohl für die Innen- wie für die Außenperspektive gilt, dass es sich um einen Gegenstandsbereich handelt, der in seiner Komplexität nicht fassbar ist. Schon beim Versuch, kulturelle Besonderheiten benennen zu wollen, werden Komplexitätsreduktionen vorgenommen. Die Beschreibung erfolgt lediglich unter Zuhilfenahme von Kategorisierungen, die ihrerseits immer relativ sind. Wie ‚kollektivistisch’ eine Kultur beispielsweise eingeschätzt wird, hängt immer von der jeweiligen Betrachtungsperspektive ab und stellt stets eine Generalisierung dar, welche sicherlich nicht für alle Mitglieder jener Kultur gilt.332
Es ist zu berücksichtigen, dass wir in einer komplexen Welt leben. Kategorisierungen und Stereotypisierungen können durch ihre einseitige und Widersprüche herausfordernde Vereinfachung durchaus dazu beitragen, komplizierte Zusammenhänge transparent zu machen:
„Die menschliche Gesellschaft, von der sich letztlich jeder irgendein Bild machen muß, um sich darin einen Platz zuweisen zu können, ist in ihrer Realität viel zu komplex, um in den Zusammenhängen so erfahren zu werden, daß ein eigenes, selbständiges und überdies auch noch richtiges Urteil gebildet werden kann. Der heute enorm vermehrte Zugang zu Informationen hat hinsichtlich der Bildung von Stereotypen kaum Abhilfe geschaffen. Eher das Gegenteil ist der Fall: die menschliche Gesellschaft wird immer weniger überblickbar, und mit der Vielzahl der Informationen nimmt immer auch deren Widersprüchlichkeit zu. Gehen wir also davon aus, daß das Bild, das wir von der Welt haben, im Prinzip mehr oder weniger stereotyp ist.“333
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So verblüffend es sein mag: Stereotype und Kategorisierungen sind nicht negativ zu bewerten. Es handelt sich um kaum verzichtbare Hilfsmittel, die ähnliche Funktionen haben wie die Hypothesen eines Philosophen, der seine Gedanken nur an Hand einer mehr oder weniger plausiblen Annahme entwickeln und sich dadurch einem Ergebnis annähern kann.
In der Stereotypenforschung existieren sehr unterschiedliche Ansätze, die zum Teil nicht viel gemeinsam haben, darunter Vertreter wie etwa Lippmann (1922), Katz und Braly (1933), Rehm (1986), Mc Cauley et al. (1980), Ashmore und Del Boca (1981), Manz (1986) oder Brigham (1971).334
Eine Vielzahl Studien beschäftigt sich speziell mit der Untersuchung nationaler Eigenschaften auch im Wirtschafts- und Geschäftsleben. So beschreibt beispielsweise ein amerikanischer Unternehmensberater die Finnen als geographisch isoliert, risikoavers und unsicher, die Deutschen hingegen als förmlich, distanziert, steif und gut organisiert.335
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Die Finnin Liisa Tiittula betrachtet solche Umschreibungen zwar einerseits als generalisierend, andererseits aber auch als wahr: „Zu solchen Listen ist zu bemerken, daß die zugeschriebenen Eigenschaften keine meßbaren Fakten sind, sondern Meinungen, aber als solche natürlich Wirklichkeit. Es handelt sich jedoch um sehr grobe Generalisierungen, bei denen ein Individuum lediglich als Vertreter einer Gruppe angesehen wird.“336
Es überrascht nicht weiter, dass – bezogen auf unternehmenskulturelle Besonderheiten – bei den meisten Kulturbeschreibungen unwillkürlich Kategorisierungen und dabei auch Stereotype gebildet werden. Da Stereotype auch in Form von Generalisierungen zumindest als Spiegelung von Meinungen ein Stück Wahrheit vermitteln können, sind sie brauchbare Hilfsmittel.
Auch wenn sich die Kulturforschung in einem ständigen „Balanceakt zwischen einzelfallorientierten Mikro- und generalisierenden Makroanalysen“337 befindet, „besteht vor dem Hintergrund der zunehmenden internationalen Mobilität zweifellos ein erheblicher Bedarf an ‚kompaktem’ Kulturwissen.“338
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Es ist stets zu berücksichtigen, dass Stereotype und Generalisierungen nicht nur im vorstehend dargelegten Sinne ein Stück Wahrheit enthalten, sondern auch den Umgang mit anderen Kulturen erleichtern.
Der nur auf empirische Methodik vertrauende Wissenschaftler mag ein gewisses Unbehagen spüren, wenn bestimmte Kategorisierungen zu Stereotypisierungen führen. Er kann im vorstehenden Sinne beruhigt werden: „Da mit jeder Kategorisierung unvermeidbar Stereotypisierungsgefahren verbunden sind, werden sich natürlich auch Stilbeschreibungen immer dort, wo sie hypothetisch arbeiten, mit der Kritik auseinandersetzen müssen, (über)zugeneralisieren. Ein solcher Vorwurf lässt sich auch nur bedingt entkräftigen.“339 Solche Vorwürfe lassen sich beispielsweise besonders dann entkräftigen, wenn die Anzahl empirischer Belege hoch ist sowie eine bestimmte Menge an Vernetzungen erkennbar wird.340
Zusammenfassend kann man feststellen, dass bei der Beschreibung bestimmter Kulturen – so auch bei der Beschreibung unternehmenskultureller Elemente – stets die Neigung besteht, Stereotype zu verwenden und Generalisierungen vorzunehmen, die zum Teil zutreffen mögen, jedoch nicht stets allgemeingültig sein können. Jedoch sind Stereotypisierungen nicht negativ, im Sinne von unzutreffenden allgemeingültigen Annahmen. Generalisierungen müssen vielmehr angewendet werden, um bestimmte nationaltypische Tendenzen aufzuzeigen. Sie erleichtern in einer heute komplexen Welt im Sinne von kompaktem Kulturwissen den interkulturellen Austausch und Umgang miteinander:
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„Zusammenfassend ließe sich also sagen, daß Stereotype nichts anderes als verkürzte Denkschemata sind. Sie haben kognitive Funktion, weil Erfahrung und Urteilskraft des einzelnen nicht ausreichen, um sich selber ein Bild von der Welt zu machen. Als solche sind Stereotype nicht zu umgehen, ja geradezu eine Notwendigkeit. Das gilt auch für die sozialen Stereotype, die der Einzelne für die gesellschaftliche Selbstzuordnung braucht. Problematisch werden Stereotype – und das gilt ganz besonders für die nationalen Auto- und Heterostereotype – wenn sie bewußt der Realität weiter entfremdet und zum Zwecke der Konkurrenz zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen, sei es im Nationalitäten- oder Klassenkampf, als solche instrumentalisiert werden.“341
Im folgenden Teil der Untersuchung wird im vorbezeichneten Sinne verfahren und versucht, von den mit aller Vorsicht verwendeten stereotypen Wahrheiten oder besser gesagt Tendenzen zu möglichst objektiven Beurteilungen zu kommen. In diesem Sinne sind Stereotype nichts anderes als Arbeitshypothesen, die eine Hilfestellung zur Erlangung von Erkenntnissen bieten.
325 Vgl. Arnstberg, kulturförnekande kulturen, S.74; vgl. Daun, mentalitet, S.46.
326 Hansen, Kulturwissenschaft, S.321 f.
327 Moritsch, Wirkungsweise, S.15.
328 Löfgren, kulturarv, S.12; Übersetzung d. Verf.: „So kann man Kulturunterschiede botanisieren und über Unterschiede in der schwedischen Mentalität nachdenken, aber es geschieht leicht, dass man nur an der Oberfläche kratzt und in stereotypen Vorstellungen eines Nationalcharakters hängen bleibt.“
329 Vgl. Koch/Rossenbeck, Probleme, S.61 f.
330 Daun, mentalitet, S.48; Übersetzung d. Verf.: „Die Stereotypie ist manchmal vorurteilshaft falsch, aber sie ist besonders in ihrer Eigenschaft der Generalisierung falsch. So heißt es zum Beispiel, dass die Schweden schüchtern sind, so als ob alle Schweden immer schüchtern wären, in allen Situationen. Es gibt in jeder Bevölkerung eine große Spannweite.“
331 Gaunt/Löfgren, Myter, S.7; Übersetzung d. Verf.: „Es sind viele Mythen darüber geschaffen worden wie der Schwede ist oder war und es werden immer wieder neue entstehen. (...) Begriffe wie Nationalcharakter oder schwedische Mentalität sind vorsichtig zu gebrauchen. Das typisch Schwedische verändert sich von Gruppe zu Gruppe und von Zeit zu Zeit.“
332 Vgl. Bolten, Überlegungen, S.128.
333 Moritsch, Wirkungsweise, S.15.
334 Vgl. Schörner, Selbstbeurteilung, S.14 ff.
335 Vgl. Tiittula, Stereotype, S.162 f.
336 Ebd., S.163.
337 Bolten, Überlegungen, S.128.
338 Ebd.
339 Bolten, Überlegungen, S.134.
340 Vgl. ebd.
341 Moritsch, Wirkungsweise, S.18.
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